Sind Deutschlands Dicke doof, arm und ignorant? Sollte eine Gesundheitspolizei endlich die kostenintensive Fett-Epidemie im Keim ersticken? Mitnichten, sagt Soziologe Friedrich Schorb im SPIEGEL-ONLINE-Interview. Er fordert ein Ende des verlogenen Umgangs mit Übergewichtigen.


SPIEGEL ONLINE: Herr Schorb, sind Sie dick?

Friedrich Schorb: Nein.

SPIEGEL ONLINE: Dennoch haben Sie ein Buch geschrieben, in dem Sie die Diskriminierung von Dicken als überzogen und verlogen anprangern.

Schorb: Ja, weil es mich ärgert, dass Politiker, Pharmakonzerne und Journalisten das Thema Übergewicht in den vergangenen Jahren für ihre Zwecke benutzt und dabei eine Fett-Phobie entfesselt haben, die mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hat.

SPIEGEL ONLINE: Immerhin gilt jeder zweite Deutsche als zu dick, jeder fünfte als fettleibig. Übergewicht erhöht das Krebsrisiko und soll laut US-Forschern sogar zu Gehirnschrumpfung führen.

Schorb: Diese Entwicklung ist doch aber nicht neu. Die größte Zunahme an Übergewichtigen hatten wir bereits in den Nachkriegsjahrzehnten. Ich halte die derzeitige Hysterie und die Warnung vor gesundheitlichen Schäden für stark übertrieben, viele Kampagnen für gefährlich, weil sie oft jene erreichen, für die sie gar nicht gemacht sind – nämlich die ohnehin schlanken, jungen Mädchen, die dann in der Essstörung landen.

SPIEGEL ONLINE: Ab wann ist denn jemand dick?

Schorb: Das hängt ganz wesentlich von der Selbstwahrnehmung ab. Und die ist häufig erheblich gestört. Ansonsten regiert der Body-Mass-Index, der besagt, dass jeder, der den Grenzwert von 25 überschreitet, dick ist.

SPIEGEL ONLINE: Laut Body-Mass-Index haben Muskelpakete wie Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone Werte jenseits der 30 und gelten damit als krankhaft fettleibig. Sollte man den BMI als Maßeinheit nicht lieber abschaffen?

Schorb: Unbedingt, denn solche Grenzwerte werden willkürlich gesetzt und sind inhaltsleere Zahlenspielerei. Sie sagen nichts aus über ein mögliches Gesundheitsrisiko. Man kann doch nicht behaupten, nur weil jemand einen Bauch hat oder mit einem BMI von über 25 zum Arzt kommt, ist er automatisch gefährdet. Andererseits braucht ein Mensch mit einem BMI von 50 keine Grenzwerte mehr, um zu erkennen, dass er ein Problem hat.

SPIEGEL ONLINE: Wer ist denn Schuld an dem BMI-Dilemma?

Schorb: Die Pharmaindustrie hat Lobbyarbeit betrieben und es geschafft, dass die Grenzwerte für Übergewicht so massiv gesenkt wurden, dass eine richtige Phobie entstanden ist. Auch die Weltgesundheitsorganisation hat die Panik verstärkt, indem sie die BMI-Werte 1997 weltweit verbindlich festschrieb – ein unsinniges, in Stein gemeißeltes Gebot, das keinerlei medizinische Rechtfertigung hat.

SPIEGEL ONLINE: Sie wollen aufräumen mit einem Vorurteil, das besagt: Dicke glotzen TV, daddeln am Computer, essen Fast Food, trinken Dosenbier, rauchen Zigaretten und kassieren Hartz IV. Kurzum: Übergewicht entsteht in der Unterschicht, weil die zu blöd ist, sich vernünftig zu ernähren.

Schorb: Einkommensschwächere Schichten waren schon in den siebziger Jahren stärker von Übergewicht betroffen als die Wohlhabenden. Aber damals wurde das als Volkskrankheit verstanden, während es heute zur Unterschichtenpathologie stilisiert wird.

SPIEGEL ONLINE: Und wer profitiert davon?

Schorb: Zunächst die Mittelschicht, die sich traditionell gern nach unten abgrenzen möchte. Aber auch Politiker, die ein Interesse daran haben, Armut als verhaltensbedingt und nicht als strukturelles Problem zu definieren. Die sogenannte Unterschicht ist deren Meinung nach fett, weil es ihr an Selbstkontrolle und Disziplin mangelt, weil sie Leistung verweigert – folglich ist sie aus denselben Gründen mittellos. Eine solche Argumentation bereitet den Boden für jede Hartz-IV-Kürzung.

SPIEGEL ONLINE: Tatsächlich belegen Erhebungen des Berliner Robert-Koch-Instituts, dass ein geringer sozialer Status und mangelnde Bildung das Fettleibigkeitsrisiko deutlich erhöhen. Selbst Überschuldung und Fettleibigkeit sollen laut Forschern der Universität Mainz in Zusammenhang stehen.

Schorb: Ja, aber dabei wird gern vergessen, dass Familien mit knappem Budget sozusagen gezwungen sind, kalorienreiches Essen zu kaufen, um satt zu werden, denn diese Lebensmittel sind in der Regel billiger, länger haltbar und besser zu portionieren.

SPIEGEL ONLINE: Die Politik beziffert die durch Fehlernährung entstandenen Kosten für das Gesundheitssystem auf 70 Milliarden Euro im Jahr.

Schorb: Das ist hanebüchener Unsinn. Da wird behauptet, 30 Prozent aller Erkrankungen seien ernährungsbedingt. Dabei weiß niemand, wie eine Ernährung, die diese vielen Krankheiten verhindern soll, eigentlich aussehen sollte. Deswegen ist es auch unmöglich, auszurechnen, wie viele Milliarden Euro die angebliche Fehlernährung verursacht. Die einzige Ernährung, die garantiert keine Krankheiten auslöst, ist die Null-Diät.

SPIEGEL ONLINE: Auch die Pharmaindustrie lebt gut von den Dicken.

Schorb: Diät-Pillen, welche die Pharmariesen bislang auf den Markt geworfen haben, sind nicht nur weitgehend wirkungslos, sondern haben gefährliche Nebenwirkungen. Regelmäßig müssen Abnehmpräparate vom Markt genommen werden, weil Todesfälle mit ihrer Einnahme in Verbindung gebracht werden.

SPIEGEL ONLINE: Sie berichten von drastischen Maßnahmen in Großbritannien, wo Ernährungsexperten in Schülerranzen nach Süßigkeiten und Chips forschen, um die „bösen Nahrungsmittel“ vorübergehend zu konfiszieren – im Namen der Volksgesundheit.

Schorb: Bei dieser Politik werden die Jugendlichen nicht ernst genommen, und man erreicht das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Die Lebensmittel, die nicht gegessen werden sollen, werden überhaupt erst interessant. Aber so eine Dämonisierung ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auch gefährlich, weil gerade bei Jugendlichen das „gefühlte Gewicht“ ohnehin häufig höher ist als das tatsächliche. Sie entwickeln bei einer Tabuisierung von Nahrungsmitteln noch schneller Essstörungen.

SPIEGEL ONLINE: Ist die Fett-Hysterie nicht auch eine Modeerscheinung, die wie so oft aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland importiert wurde?

Schorb: Ja, und das Interessante ist, das gerade die USA mit ihrem Riesenangebot an cholesterin- und fettfreien Lebensmitteln kolossal gescheitert sind – denn die Übergewichtsraten sind dort nach wie vor sehr hoch.

SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben, letztlich seien die Unterschiede beim Essverhalten zwischen Mann und Frau viel größer als zwischen Mittel- und sogenannter Unterschicht. Ist das die Polemik der Zukunft – disziplinierte Frauen vs. faule, fette Männer?

Schorb: Statistisch gesehen hätte eine solche Auseinandersetzung zumindest die bessere Grundlage (lacht). Doch daraus sollte man nicht die Forderung ableiten, dass Männer aufgrund ihres Risikoverhaltens zukünftig höhere Krankenversicherungsbeiträge zahlen müssen als Frauen.

SPIEGEL ONLINE: Sollte der dicke Bauch im Visier einer staatlichen Gesundheitspolizei stehen?

Schorb: Natürlich nicht. Der Staat sollte so wenig wie möglich intervenieren. Das Wichtigste ist, die Kinder in Schulen und Tagesstätten vernünftig zu ernähren, ihnen ein vollwertiges Frühstück und Mittagessen anzubieten – nicht nur einen Teller Obst. Ernährungsunterricht sollte nicht auf Abschreckung und Verbote setzen. Vielmehr sollten die Kinder gemeinsam kochen und backen, das Handwerk und damit auch eine Kulturtechnik erlernen. Spaß statt Angst vor dem Essen – das ist entscheidend.

SPIEGEL ONLINE: Der Homo Sapiens ist schon lange kein Jäger und Sammler mehr – eher ein Hänger und Gammler. Sollten wir uns damit abfinden, dass wir aus Bewegungsarmut immer dicker werden?

Schorb: Der Jäger und Sammler aus der Jungsteinzeit hatte eine Lebenserwartung von 30 Jahren, die Hänger und Gammler von heute werden im Durchschnitt 80 Jahre alt. Wir werden nicht trotz, sondern wegen des Überangebots an Nahrungsmitteln und des Rückgang von erzwungener Bewegung im Alltag immer älter.

Das Interview führte Annette Langer

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