Dick oder schwul

Dem neuen Komplex der Primarschülerinnen  bin ich an der letzten Geburtstagsparty meiner Tochter zum ersten Mal begegnet: Eines der gelandenen Mädchen sass ganz allein auf dem Sofa, während die anderen Gäste Kuchen assen. Ich fragte die Neunjährige, ob sie keinen Schokoladencake möge, worauf sie nur mit den Schultern zuckte und sagte: «Meine Freundin hat gesagt, ich bin dick.» Das Mädchen, das mit den Tränen kämpfte, gehörte zu den grössten Gästen an der Party und war so normalgewichtig wie alle anderen auch. «Du bist überhaupt nicht dick, du bist genau richtig», wollte ich es trösten. Es schaute mich nur verständnislos an, stand auf und setzte sich mit den anderen an den Tisch.

Dick ist das neue doof

Ein paar Wochen später erzählte mir meine Blogpartnerin, dass ihre siebenjährige Tochter mit der Frage nach Hause gekommen sei: «Mama, bin ich dick?» Und als ich kürzlich im Hort auf meine beiden Töchter wartete, hörte ich zwei Jungs darüber verhandeln, wie man  eine Klassenkameradin, die ihnen auf den «Sack» ging, am besten fertigmache: «Wir sagen ihr, sie sei fett. Das hilft immer», schlug der eine vor. Der andere nickte begeistert.

Seither höre ich, wenn immer ich Mütter auf das Thema anspreche, von Töchtern oder deren Freundinnen, die dick geschimpft werden. «Dick» ist offenbar für Mädchen, was «schwul» für die Jungs: Die schlimmste Beleidigung. Beide Adjektive haben sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung losgelöst und als Schimpfwort verselbständigt. Kinder haben keine genaue Vorstellung von Übergewicht oder Homosexualität im Kopf, wenn sie den Kameraden diese Schimpfworte an den Kopf werfen. Aber sie haben ein feines Sensorium für das, was ausgrenzt, weil es von der propagierten Norm abweicht.

«Dick» und «schwul» sind deshalb in ihrer abwertenden Funktion so wirkungsvoll, weil sie zentrale Werte von weiblichen und männlichen Geschlechtsbildern in unserer Gesellschaft spiegeln: Figur und Schönheit bei Frauen, Stärke, Coolness und Machismo bei Männern. Es reicht, dass ein Junge nicht Fussball spielt, um ihn schwul zu schimpfen. Und offenbar reicht ein Krach auf dem Pausenplatz, um sich den Titel «fett» einzuhandeln. Meine willkürliche und unrepräsentative Umfrage unter Primarschülerinnen  hat zudem ergeben, dass Mädchen heute lieber als «Tussi» bezeichnet denn «dick» genannt werden. Sollte diese Reduktion auf Rollenklischees uns Müttern und Vätern zu denken geben? Oder handelt es sich dabei bloss um idiotische aber harmlose Auswüchse der Jugendsprache?

Kommentar veröffentlichen

*